Warum Frau N., Verwaltungsangestellte i.R., den Aufruf für ein Sanktionsmoratorium verbreitet und – wie andere – aktiv für dieses Ziel eintritt


Es kommt vor, dass Menschen, die den Aufruf verbreiten, uns ihre Beweggründe mitteilen.
So auch Frau N., die als Verwaltungsangestellte im kirchlichen Dienst tätig war und nun im Ruhestand ist. Seit Sommer 2009 unterstützt sie eine Hartz-IV-Bezieherin und macht dabei Erfahrungen, die sie „nie für möglich gehalten (hätte)“.
Überzeugt, dass Sanktionen „zu recht kritisiert werden“, hat sie damit begonnen, ...

den Aufruf in kirchlichen Kreisen zu verbreiten.
Sie ist empört über das, was Hartz IV für die Menschen bedeutet und schreibt: „Es ist mehr als eine Schande für unser Land, wie mit den Arbeitslosen umgegangen wird und wie wenig die meisten Menschen informiert sind. Da fallen Sätze: ‚Na, die kriegen doch alles ...’ und ‚Die Miete wird vom Staat bezahlt’ ... Unter welchen Voraussetzungen das geschieht, ist den meis-ten nicht bekannt. Ich habe Ihren Aufruf unterschrieben und hoffe, daß es noch mehr Unter-schriften gibt.“

Frau N. hat ein kleines Erfahrungsprotokoll verfasst, das sie zusammen mit dem Link zu unserer Bündnis-Website verschickt. Mit ihrem Einverständnis geben wir hier ihren Erfah-rungsbericht wieder. Er beginnt mit einem Appell:

„An alle Empfänger dieser e-mail: Schauen Sie auf diesen Link und informieren Sie sich. Sie können auch unterschreiben und diese Initiative unterstützen: www.sanktionsmoratorium.de

’Es hatte so gut angefangen ...’

Ich war Verwaltungsangestellte und bin jetzt im Ruhestand. Seit 5 Monaten betreue ich ehrenamt-lich eine Hartz-IV-Empfängerin. Sie war einmal meine Nachbarin. Sie hatte endlich Arbeit gefun-den, ist aber eine ‚Aufstockerin’. D.h. sie verdient so wenig, daß sie noch zusätzlich Arbeitslosen-geld II (Hartz IV) bekommt. Was ich da in der Praxis erlebe, hätte ich nie für möglich gehalten. Alles darüber zu berichten, wäre zu lang.

Ich habe den Aufruf für das Sanktionsmoratorium unterschrieben und werbe um Unterstützung, den Link: www.santionsmoratorium.de zu verbreiten und zu unterschreiben. Meine ehemalige Nachba-rin, die ich berate, ist arbeitswillig, fleißig, zuverlässig. Sie ist alleinstehend und braucht Hilfe. Bis zum August 2009 wohnte sie nebenan. Sie lebt unter dem Existenzminimum und verdient als ge-lernte Floristin (Vollzeit!) netto 780,– € im Monat. Sie zahlt 320,– € Miete, 25,– € Strom, 99,– € für die Monatskarte, GEZ, Telefon, Praxisgebühr und monatlich eine Rate von 175,– € für ihren Schul-denabbau, die sich in der Übergangszeit angehäuft haben (Mietrückstände, Telefon, Strom, Haft-pflichtversicherung). Fahrzeit für eine Strecke täglich: 1 1/2 Stunden. Sie kann keine Rücklagen bilden, kauft das billigste Essen – kein Kino, kein Hobby. Sie läßt sich anrufen, um Telefonkosten zu sparen. Kein Friseur, keine, aber gar keine Extras. Urlaub? Tageszeitung? Kleidung? Schuhe? Aber sie hat die Möglichkeit, Spenden der Essenstafel zu bekommen. Wenn die offen hat, arbeitet sie. Arbeitszeit von Montag–Samstag von 8–20 Uhr mit 2 Stunden Mittagspause, Ausgleich der Mehrstunden wie es paßt. Der Arbeitgeber hat den Eingliederungszuschuß kassiert, sie aber nicht eingearbeitet und nach zwei Monaten ohne Angabe von Gründen während der Probezeit gekündigt. In drei Monaten gab es dort mehrere Wechsel und Kündigungen. Es ist zweifelhaft, ob die Rückzahlung des Eingliederungszuschusses durch die Arbeitgeberin von der Agentur für Arbeit kontrolliert wird. Ein Mitarbeiter dort sagte mir, daß sie es oft nicht schaffen. Ich habe dann bei der zuständigen Stelle angerufen und die Kündigung gemeldet. Ich bin gespannt, ob ich eine Rückmeldung bekomme, daß der Eingliederungszuschuß zurückgezahlt ist. Ich werde nachfragen.

Meine ehemalige Nachbarin mußte seinerzeit umziehen, die Wohnung hier hatte statt 40 erlaubte leider mehr Quadratmeter und ein Zimmer zuviel und kostete mehr als 393,– €. Den Umzug mußte sie selbst bezahlen. Nur ein kleines Lastauto wurde genehmigt. Um die Kosten ersetzt zu bekommen, sollte sie drei verschiedene Kostenvoranschläge einholen ... und wer trägt den Schrank? Ist bei diesem Zwangsumzug nicht vorgesehen. Die Umzugshelfer hat sie bezahlt.

Eine 1-Zimmer-Wohnung für 393,– € warm mit 40 qm war kaum zu finden. Sie hat vier Monate gesucht. (‚Was? Hartz-IV-Empfänger? Nein danke, ich will keine Asozialen in meiner Wohnung ...’) Mietrückstände häuften sich. Darlehen vom Sozialamt? Nur mit Beharrlichkeit, viel Zeitaufwand, Formularkram und Durchsetzungsvermögen. ‚Nein, wir geben keine Zuschüsse ..., eventuell, aber auch nur eventuell, ein Darlehen. Kommen Sie in vier Wochen wieder ...’

Es sind 2.500,– €, die werden ihr jetzt vom JobCenter monatlich mit 30,– € abgezogen.

Das Darlehen bekam sie erst, nachdem ihr Vermieter ihr mit Zwangsräumung gedroht hatte. Das hat sie dann schriftlich vorgelegt. Dabei hatte sie immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Vermieter, der sie eigentlich nicht auf die Straße setzen wollte, weil er selbst in die Kurzarbeit kam und gerade aus seinem Haus wegen Eigenbedarfs ausziehen musste. Er hatte die Wohnung, in der sie 6 Jahre gewohnt hatte, als Kapitalanlage gekauft und zur Alterssicherung und brauchte die Mietrückstände! Aber damit sie das Darlehen bekommt, hat er ihr dann doch einen entsprechenden Brief geschrieben. Denn nur für 6 Monate hätte das JobCenter die Miete für die alte Wohnung bezahlt. Zum Glück fand sie nach vier Monaten die angemessene neue Wohnung.

An der Tür der Arbeitsagentur stehen Bodygards, die Bearbeitung dauert ..., die Auskunft über die Rechte sind dürftig, die Pflichten dagegen genauestens formuliert!!! Kann man im Internet nachlesen! Sie hat kein Internet. Sie muß dauernd rückfragen. Ruft sie dort an, ist besetzt oder es geht keiner ran oder der Anrufbeantworter meldet sich. Erklären Sie mal Ihre Situation einem Automaten, den Sie nicht fragen können ...

Im JobCenter hat man ihr gesagt, daß man Spenden, die sie von einer karitativen Einrichtung bekommt, eigentlich anrechnen müsste (hat es aber nicht getan ...). Wieso nicht? Weil es vielleicht gar nicht stimmt?

Ich habe im Internet nachgesehen. Dort steht, daß Spenden, nicht zum Einkommen zählen ...

Ich habe ihr erlaubt, meine E-mail-adresse zu benutzen, drucke die Nachrichten für sie aus und schicke sie ihr mit der Post oder bringe sie vorbei oder rufe sie an. E-mails werden zwar beantwortet, dauert aber manchmal mehrere Tage. Eine Eingangsbestätigung gibt es nicht. Ich weiß also nicht, ob die mail überhaupt gelesen wurde. Sprechstunden? Kaum wahrnehmbar während der Berufszeit. Die Formulare sind schwer verständlich. Mit diesem System kommen die wenigsten Leute auf einen grünen Zweig. Es gibt auch Ausnahmen, die gut damit leben, das sind die wenigsten, die genau wissen, wie sie sich durchschummeln. Die Vorurteile in der Gesellschaft sind vorprogrammiert ...

Die Mitarbeiter bei der Agentur für Arbeit sind alle sehr bemüht und freundlich, aber total überlastet. Sie ist jetzt in der Abteilung ‚50plus’ ... Man will sie schulen, wie sie Bewerbungen abfassen muß. Sie soll gutes Papier benutzen (gibt es bei Aldi). Sie wurde gefragt, ob sie eine Visitenkarte hat. Man empfahl ihr, einen Flyer zu erstellen und bei Vorstellungsgesprächen als Erinnerung für den Personalchef dort zu lassen (als ob die Bewerbung nicht ausreicht). Sie hat kein Geld, einen Flyer drucken zu lassen. Ob es etwas nutzen würde? Sie hat noch nie im Leben Visitenkarten gebraucht.

Meine Nachbarin ist inzwischen bei der Schuldenberatung der Caritas. Die Betreuung dort ist großartig.

Aber nun beginnt alles wieder von vorn: Sie sucht Arbeit. Sie ist Ende Fünfzig. Sie hat kaum eine Chance und was bleibt ihr? 359,– € minus Warmwasserkosten (8,–), minus Strom (25,–), minus Telefon (22,–), Fahrkarte ermäßigt (23,–), minus 125,– € Schuldenabbau; bleiben monatlich 156,– € für alles zum Leben. Zum Glück hat sie aber jetzt eine nette Vermieterin. Die Miete zahlt das Job-Center.

Als sie die Wohnung fand, hat sie nicht gesagt, daß sie Hartz-IV-Empfängerin ist und die Kaution nicht beim JobCenter beantragt, denn es wäre sowieso nur ein Darlehen gewesen ... Ich habe ihr das Geld geliehen. Wenn ich es nicht zurückbekomme, verbuche ich es als Spende (statt Brot für die Welt), obwohl ich es nicht von der Steuer absetzen kann ... .“


(Die Einsenderin dieses Artikels ist dem Betreiber der Website bekannt.)

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